Open Call – Der Nussbaum, die Tastatur und der Joghurt

Es war ein heißer Tag im Spätsommer. Nichts stimmte an diesem Tag, der zu warm dafür war, dass es regnete, der zu früh war für die braunen, durchweichten Blätter, die auf dem Boden lagen. Sie stand unter dem Nussbaum. Der alte Baum in ihrem Garten schenkte ihr Kühle und warme, große Tropfen kullerten von dem lichten Blattwerk auf ihre Schultern. Ihre Zehen gruben sich in den Untergrund und der nasse Teppich aus herbstlichen Blättern klebte an ihrer Sohle fest. Gelegentlich spürte sie heruntergefallene Walnüsse wie spitze Steine in ihren Ballen, während sie unter dem Nussbaum ihre Kreise zog. Sie redete sich ein, dass sie darauf wartete, dass der Regen aufhörte, doch die Wahrheit war, dass sie keinerlei Verlangen besaß, sich außerhalb des schützenden Ästedachs zurück in die Welt zu begeben. Gedankenverloren nestelte sie an einer Walnuss, löste die grüne Hülse von der braunen Schale und schaute zu, wie sie sich in Stückchen zurück zu den braunen Blättern gesellte. Ihre Hände waren schmutzig und durchweicht, mit der befreiten Nuss als neuer Kern in ihrer Handfläche.

Nichts stimmte an diesem Tag, erinnerte sie sich und dachte zurück an die Nachricht auf ihrem Telefon. Sie hatte antworten wollen, aber die Schriftzeichen auf ihrer Tastatur erschienen ihr wie eine fremde Sprache. Sie war nach draußen gegangen, obwohl etwas mit dem Wetter nicht stimmte. Sie hoffte, in der Natur ihres Gartens eine Antwort zu finden. Der erdige, leicht zimtige Geruch umgab sie, wenn Herbstverwesung mit Regen und warmen Sommertagen zusammentrafen. Der Walnusskern in ihrer geschlossenen Hand fühlte sich kühl an, sie sah es als ihre Aufgabe, ihn zu erwärmen. Sie stellte sich vor, wie eine Pflanze aus ihm wuchs, gleich hier durch ihre Finger. Der erste Ast des Setzlings spross in der Lücke zwischen ihrem Daumen und dem Zeigefinger den Unterarm hinauf. Die Wurzeln umschlangen die restlichen Finger. Sie blickte den großen Walnussbaum nach oben, in dem Moment als der kleine Setzling über ihr Schlüsselbein den Nacken erreichte. Im Schatten des anderen unter zu wenig Licht würde er nicht gedeihen können. Mit einiger Überwindung durchquerte sie die selbst auferlegte Grenze zwischen Baum und Rest. Behutsam schaufelte sie Erde beiseite und legte die Walnuss in ihren Erdthron ab. Sie schob eine Decke aus Erde und Blättern darüber und ging langsam zu ihrem Haus zurück. Sie begann, sich losgelöster zu fühlen und bemerkte, dass sich ein Hungergefühl in ihr eingestellt hatte, nachdem sie zurückgekehrt war. Vage erinnerte sie sich, dass noch ein einzelner Joghurt in ihrem Kühlstand auf sie wartete.


Autorin: Marlene Weber

Bildquelle: unsplash

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