Open Call – Hoch hinaus

Durch weitgeblähte Nasenlöcher versuche ich angestrengt, die immer dünner werdende Luft in meine bereits strapazierte Lunge zu saugen. Jeder Atemzug ist ein Kraftakt, der mir bei jedem weiteren Mal schwerer zu fallen scheint. Der Schwindel, der vor einiger Zeit eingesetzt hat, scheint sich auch mit jedem Schritt, mit dem ich mehr an Höhe gewinne, tiefer in meinen Kopf einzunisten. Ein stetiges Warnsignal, eine Erinnerung daran, dass ich diese Mission unterschätzt habe.

Ich fühle mich wie der kleine Hans, der die grüne Bohnenranke hinaufkletterte, um den Riesen zu bestehlen. Nur schien es diesem Kind keine Mühen zu kosten in den Himmel zu klettern. Der Gedanke, dass ich von einem fiktiven Jungen aus dem 19. Jahrhundert in einem Wettkampf – ebenfalls fiktiver Natur – besiegt wurde, lässt mich den Schmerz und die Angst für eine kurze Zeit vergessen und einen Schwall hart erkämpfter Luft – teils aus Belustigung, teils aus gekränktem Stolz ob meiner absurden Gedankenspiele – ausstoßen.

Im Gegensatz zu dem Märchen würden mich auch keine Reichtümer erwarten, sobald ich mein Ziel erreicht hatte, lediglich das süße Gefühl der Befriedigung eine komplizierte Aufgabe erfüllt zu haben. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg, wie mir ein Blick gen Himmel, auf den Ort gerichtet, um den meine Gedanken seit geraumer Zeit kreisten, bestätigte.
Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viel mehr von dem grauen Ungetüm ich noch zu erklimmen hatte.

Einen Blick nach unten zu wagen, war zu riskant, wenn man bedachte, wie stark ich allein jetzt schon von Schwindel betroffen war, sodass eine leichte Kopfbewegung den ganzen hart erkämpften Fortschritt zunichtemachen konnte. Bei dem Versuch, meine Gedanken zu klären, schüttelte ich leicht den Kopf, stieß daraufhin jedoch einen leichten Fluch aus, da ich mich stärker an die metallene Sicherung klammern musste, um nicht in den sicheren Tod zu stürzen.

Das war knapp. Zu knapp.
Ich musste mich stärker zusammenreißen.

Mit einem Blick aus meinem Augenwinkel sah ich, wie die Sonne bereits den Rand des Horizonts streifte und mit ihrem orangeroten Leuchten den Einbruch der Dunkelheit ankündigte. Jetzt musste ich mich wirklich beeilen. Vergessen waren die Gedanken an Märchen und Wunder, den Schmerz, der meine Lunge zu zerreißen drohte. Alles was blieb, war der Schwindel und die Furcht vor der Dunkelheit, die die Besteigung erheblich erschweren würde. Aufgeben war nach all den Strapazen keine Option.

Ich war schon so weit gekommen, meine Angst vor der schwindelerregenden Höhe bis zu diesem Punkt unterdrückt, hatte mir jeden Zentimeter hart erkämpft. Mit Entschlossenheit im Herzen wagte ich die finalen Schritte auf der Trittleiter, nur um geschockt innezuhalten. Anstelle der heiß begehrten Buchrücken mit dem Anfangsbuchstaben M fanden sich hier nur Werke, die mit J begannen. Irritiert blickte ich auf den zerknitterten und verschwitzten Zettel in meiner Hand. Die Zahlen und Buchstaben schienen leicht zu verschwimmen, dennoch sprang mir mein fataler Fehler sofort ins Auge. Ich hatte mich im Regal geirrt.

Frustriert seufzend begann ich den Abstieg, von der Enttäuschung über mein Versagen soweit abgelenkt, dass ich meine Höhenangst für einen Moment fast vergaß. Als ich vorsichtig den ersten zittrigen Fuß auf festen Boden stellen konnte, atmete ich erleichtert aus und nahm mir vor, einen der Mitarbeiter dieser Bibliothek zu bitten, mir die gewünschten Bücher zu beschaffen. Fürs Erste hatte ich genug von Abenteuern, insbesondere wenn sie in schwindelerregenden Höhen spielten.

Autorin: Luisa Giebner
Bildquelle: pixabay.com

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