Buchgemeinschaft 2.0

Die klassischen Buchgemeinschaften nach dem Muster des Club Bertelsmann sind dem Wandel der Geschäftsmodelle in der Medienbranche zum Opfer gefallen. Der ehemals zentrale Nutzenvorteil des Angebots – Bücher direkt nach Hause geliefert zu bekommen – ist mittlerweile ringsumher zum Standard geworden. Darüber hinaus scheint eine auf Dauer angelegte Mitgliedschaft inklusive Verpflichtung zum regelmäßigen Buchkauf so gar nicht mehr in unsere schnelllebige Zeit zu passen. Oder doch? Unterdessen ist nämlich ein gänzlich anderes Modell der „Buchgemeinschaft“ auf dem Vormarsch, bei dem Verpflichtung ebenfalls eine Rolle spielt.

Gemeint sind die guten alten Lesekreise, die für sich genommen natürlich kein neues Phänomen darstellen, sondern auf so manchen wohl eher angestaubt und antiquiert wirken mögen. Gängige Vorstellung: Leute, die in einem Kreis sitzen, ein Buch dabei haben und dann über das Gelesene sprechen. So weit, so unspektakulär. Erlebt diese Form der bibliophilen Freizeitgestaltung aktuell dennoch ihr großes Revival? Von einem Trend zu sprechen gestaltet sich noch schwierig, da keine seriösen Zahlen vorliegen. Schätzungen gehen jedoch von bis zu 700.000 in Lesekreisen organisierten Literaturfans im deutschsprachigen Raum aus. Auf diese Zahlen verweist unter anderem Kerstin Hämke, ihrerseits Gründerin der Plattform mein-lesekreis.de. Dort geht es zunächst um die Vorstellung von Büchern, die für Lesekreise geeignet sind. Es gibt Tipps zur Gründung und dazu, wie man einen Literaturkreis lebendig hält, und es werden bestehende Lesekreise vorgestellt. Hämke hat auch bereits ein eigenes Lesekreis-Handbuch veröffentlicht, das sich neben anderen Publikationen der gleichen Art einreiht. Warum sich dafür immer häufiger auch Verlage interessieren ist für die Lesekreisexpertin leicht zu erklären. Die Branche wisse, dass immer weniger Leser*innen insgesamt mehr Bücher kaufen. „Das sind natürlich (auch) Lesekreis-Mitglieder. 25 Prozent der Lesekreismitglieder kaufen einer Umfrage auf mein-literaturkreis.de zufolge über 50 Bücher im Jahr. Und sie sind Lesemeinungsführer in ihrem Freundeskreis.“ Lesekreismitglieder*innen als natürliche Multiplikatoren also, als Influencer im Dienste des Buchmarkts. In der Praxis hat sich daher etabliert, dass Verlage wie Hanser oder dtv auf ihren Websites zusätzliche Materialien für Lesekreise zur Verfügung stellen. Exklusive Texte zur Entstehungsgeschichte des Werkes, Interviews mit den Autoren, zentrale Zitate, Thesen und Fragen, die zur Diskussion anregen sollen die Leser davon überzeugen, das jeweilige Buch für ihre Literaturgruppe auszuwählen. Mitunter gibt es sogar ein Lesejournal, um Leseeindrücke und Notizen festzuhalten, als Gratis-Download.

Die Literaturwissenschaftlerin Claudia Dürr forscht an der Uni Klagenfurt zu dem Thema und kann die Verlage in ihrem tun nur bestätigen. Es sei nicht von der Hand zu weisen, dass Literaturkreis-Mitglieder*innen im Rahmen ihres Buchauswahlprozesses auf die zur Verfügung gestellten Zusatztexte zurückgreifen. Sie betont allerdings auch die Vielfalt der einzelnen Gruppierungen und die sich anschließende Tatsache, dass es das perfekte Lesekreis-Buch nicht gibt. Die Möglichkeiten der behutsamen Einflussnahme durch die Verlage finden also auch ihre Grenzen. Dennoch ist die Entwicklung für den Buchmarkt als solchen sicher erfreulich; ist eine große Menge engagierter bis enthusiastischer, und vor allem mitteilungsfreudiger, Leser*innen schlussendlich Reading Promotion im besten Sinne. Dem entsprechend sieht auch Dürr die entscheidende Neuerung im Bereich der ja eigentlich alten Lesekreise in deren steigender Sichtbarkeit. Denn neben den erwähnten Online-Plattformen entstehen auch Lesekreise selbst in Online-Varianten, etwa unter #twitlektüre auf Twitter. Diese sind im Gegensatz zu den traditionellen, privaten Real Life-Versionen sogar offene, und vor allem öffentliche Veranstaltungen. Damit bieten sie mitunter in verstärkter Weise die Chance zur Selbststilisierung frei nach dem Motto „Zeig mir, was du liest und ich sag dir, wer du bist“. Da verwundert es wenig, dass unlängst auch diverse Celebrities mit der Gründung eigener Book Clubs aufgefallen sind, so etwa Emma Watson oder Reese Witherspoon. Für die Journalistin Hannah Lühmann wird dabei das „Buch als analoges Fetischobjekt gehandelt“ und „die Stars fungieren als eine Art Gurus“. Make reading great again! Auf grundlegender Ebene sieht sie die Popularität von Online-Lesekreisen derweil als „Ausdruck der Sehnsucht, im Internet zu Organisationsformen zu finden, die ein Gefühl analoger Kuscheligkeit erzeugen, neue Formen des Austauschs ermöglichen, in denen persönlicher Kontakt wieder aufgewertet wird“. Was aber finden nun die gewöhnlichen (offline verweilenden) Leser*innen daran, sich in einem Lesekreis zu verdingen? Abgesehen von der angesprochenen Kuscheligkeit. Hierzu haben Umfragen gezeigt, dass unter anderem die lesemotivierende Funktion von den Lesekreismitglieder*innen geschätzt wird. Selbstverpflichtung ist das Stichwort, steht doch am Ende, wer das Buch nicht vorher gelesen hat, in der Gruppe reichlich beschämt da. Verpflichtung – womit wir wieder bei der Eingangsfrage wären – ist also nicht das Problem, es kommt eben nur darauf an wie.

Autor: Christian Bartl

Foto: pexels.com / Helena Lopes

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