The Substance – eine Metapher für die Beziehung mit unserem eigenen Körper und wie sich diese verändern kann, wenn wir altern. Eine wunderbar schlaue Erzählung darüber, wie unsere eigene Stimme zu unserer größten Kritikerin werden kann.
Es ist Herbst, meine liebste Jahreszeit. Vernebelte Straßen, die ersten kalt knisternden Nächte und Halloween. Ich mag es sehr, mich zu gruseln. Von alten Märchen, die am Lagerfeuer erzählt werden, bis zum kreativsten Film, der mir wieder einmal beweist, dass das Horrorgenre mein liebstes ist. Nackte Hexen, Rache Tropes, Naturgewalten, wütende Geister, die Liste ist unendlich.
Auf meine herbstliche Stimmung abgestimmt war die Premiere von „The Substance“. Die Tatsache, dass in den Hauptrollen und der Regisseurposition Frauen sind, machte mich nur noch neugieriger. Frauen erzählen Geschichten aus meiner Sicht und Frauen können Grusel anders, denn sie sind anderen Fürchten und Gewalten ausgesetzt, ihre Filme sprechen eine andere Sprache. Ich bin der Meinung, kein Mann kann Horror so facettenreich und spannend. Denn mein weiblicher, reeller, alltäglicher Horror zeigt sich in Situationen, in denen Cis-Männer keine Angst oder Hilflosigkeit verspüren. Diese Ungleichheit formt die Kunst von Frauen und ist für mich auch in Filmen sichtbar.
„At 50 it stops”
Mit 50 hört es auf, sagt der Chef dem Hollywoodstar im Film. Plötzlich spielt sie buchstäblich keine Rolle mehr im Showbusiness. Dass alternde Frauen einer massiven Wand aus Kritik, Spott und allen möglichen Qualen gegenüberstehen, während ihre Schauspielkollegen altern wie ein guter Wein, ist keine neue Thematik. Trotzdem verliert sie nicht an Relevanz. „The Substance“ verarbeitet diese Problematik in einem Ton, der mir unglaublich viel Spaß gemacht hat anzuschauen.
„At 50 it stops” wird im Film als ein unausweichliches, tragisches Ende eines Lebensabschnitts betont. Der Chef, der während dieser Szene dutzende Shrimps in Kleinkindmanier verschlingt, mit fetttriefenden Fingern an einem Tisch, der einem Schlachtfeld gleicht, trieb mir den Ekel genauso ins Gesicht wie die offensichtlicheren Horrorszenen im Film. Im Film wird der Hauptcharakter zu grausamen Maßnahmen getrieben. Nicht nur die Außenwelt und ihre Beobachter treiben sie dazu, sondern auch ihre eigenen Gedanken. Ihre eigene Stimme geht so lieblos mit ihr um, dass sie sich plötzlich tief in den Auswirkungen ihrer Selbstkritik befindet. Für sie ist es unmöglich ihre Entscheidungen rückgängig machen zu können. Der erste Schnitt wurde getan, dem ersten Nadelstich kann nur die nächsten folgen.
Wie wir Frauen im echten Leben mit all der Kritik umgehen, ist keinem Drehbuch überlassen. Der Film sagte mir eindeutig, dass ein Ende mit 50 ein Anfang ist. Vielleicht endlich ein Ende der Sexualisierung unseres Körpers, ein Anfang von körperlicher Freiheit, der Anfang von Selbstbestimmung und Frieden mit uns selbst.
So viel Gewalt
Ich verstehe, wenn Menschen keine gewaltvollen Szenen ansehen möchten. Die Welt ist schlimm genug und freiwillig Gänsehaut zu bekommen ist nichts für Jede. In „The Substance“ lässt sich der letzte und gleichzeitig blutigste Akt aber für die Vollständigkeit der Erzählung nicht vermeiden. Denn so grausam wie das letzte Kapitel auch scheinen mag, es stellt die Gewalt, die wir unserem Körper physisch und mental aussetzen, sehr gut dar. Das Kapitel gibt uns noch einmal Zeit für die Entscheidung, für einen neuen Umgang mit uns selbst. Wollen wir uns unter gesellschaftlichem Druck, Frauenhass und Schönheitswahn beugen? Unsere Hände voll von Skalpell, Nadel, Faden, Gua-Sha-Steinen, Microneedle-Rollern und LED-Masken. Wollen wir unser Gesicht verformen, immer neue Fehler finden, uns zuhause verstecken und letztlich eine monströse Version unserer selbst werden? Wollen wir den vielen Industrien glauben, wenn sie uns neue Fehler zuflüstern, um uns dann das nächste magische Produkt zu verkaufen? Wollen wir diese Gewalt an uns selber ausüben, uns diesem lieblosen Umgang mit unseren Körpern unterwerfen?
Der Film endet dramatisch, blutig und gewaltvoll – genau in der Sprache, in der die Industrien mit uns sprechen. Der Hauptcharakter ist bis zum Schluss auf der Suche nach Anerkennung und gibt alles dafür. Die letzte Haarsträhne, den letzten Zahn, bis nichts mehr von der 50-Jährigen zu erkennen ist.
Wir alle stehen irgendwann dem gleichen Lebensabschnitt gegenüber, wir meistern diese Phase auf unterschiedlichste Weise. Angst davor wird in uns allen geschürt. „The Substance“ wird mich auch an meinem nächsten Geburtstag beschäftigen, mich daran erinnern, jedes weitere Lebensjahr zu feiern, dem maßlosen Perfektionismus mit Selbstakzeptanz entgegenzuwirken und mehr Horrorfilme von und für Frauen anzusehen.
Autorin: Sophie Rochlitzer
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