Ich erinnere mich noch, wie ich als Teenager auf keinen Fall durchschnittlich sein wollte. Wie alle anderen zu sein, bedeutete für mich langweilig und damit unbedeutend zu sein. Was mich als Teenie um den Schlaf brachte, ist heutzutage zum Glück nur noch eine seltene Sorge. Dennoch fällt es schwer, sich dem stetigen Streben nach der eigenen Einzigartigkeit zu entziehen. Was hat es damit auf sich?
Auf Social Media werden wir immer wieder aufgefordert uns zu hinterfragen: Ist mein Musikgeschmack zu langweilig? Wie entwickele ich meinen eigenen Style? Denke ich selbst oder folge ich einfach dem Mainstream? In unserem Drang nach dem perfekt kuratierten Ich sammeln wir möglichst viele USPs (grob übersetzt: Alleinstellungsmerkmale), um uns so gut es geht von der Masse abheben zu können. Dieser Druck, besonders sein zu müssen, rührt unter anderem aus dem Prinzip des Individualismus.
Was ist Individualismus?
Individualistische Prinzipien stellen das Individuum in den Mittelpunkt aller Überlegungen. Die Bedürfnisse und Rechte des Einzelnen stehen damit über denen der Gemeinschaft. Es sei nicht die Gemeinschaft, die das Individuum prägt, sondern nur das Individuum selbst bringe Veränderungen in der Gemeinschaft und seinem eigenen Leben hervor.
Individualismus verlegt damit die Verantwortung, sich selbst zu verwirklichen und ein gutes Leben zu führen, in die Hände jedes:r Einzelnen. So verspüren wir Druck, die authentischste und beste Version unserer Selbst werden zu müssen; unabhängig und unerschütterlich aus eigener Kraft unseren individuellen Weg zu finden. Doch was ist, wenn wir auf die Unterstützung einer Gemeinschaft angewiesen sind?
Individualismus und soziale Gerechtigkeit
Der eigenen Individualität einen hohen Stellenwert zuzuschreiben, ist natürlich nicht per se falsch. Individualistische Betrachtungsweisen helfen uns, unsere eigenen Bedürfnisse zu erkennen, Grenzen festzulegen und damit mit vorgegebenen sozialen Rollen zu brechen. Sie können uns allerdings daran hindern, nachhaltige Gemeinschaften aufzubauen.
Studien scheinen derzeit zu implizieren, dass es allerdings nicht der Individualismus an sich ist, der soziale Ungerechtigkeit fördert. Werden individualistische Tendenzen jedoch mit vertikalen, also hierarchischen Weltanschauungen kombiniert, gefährden diese gesellschaftlichen Zusammenhalt und Gleichberechtigung.1
Kurz gesagt: Sich selbst weiterentwickeln zu wollen und damit potenziell aus der Masse herauszustechen, kann richtig und wichtig sein. Geht das allerdings mit der Herabsetzung anderer Menschen einher, kann das ständige Streben nach Einzigartigkeit schädlich werden. Und ist der Gedanke, viele Gemeinsamkeiten mit einer tollen Gruppe Menschen zu teilen, nicht auch tröstlich?
Autorin: Carmen Jenke
Bild: pixabay
1 zu beispielhaften Studien:
Barbara Czarnecka, Bruno Schivinski, Serap Keles (2020): How values of individualism and collectivism influence impulsive buying and money budgeting: the mediating role of acculturation to global consumer culture. Verfügbar unter: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/cb.1833
Julie Aitken Schermer et al. (2023): Loneliness and vertical and horizontal collectivism and individualism: A multinational study. Verfügbar unter: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2666518223000104
Hossein Dabiriyan Tehrani; Sara Yamini (2022): Gender Differences Concerning the Horizontal and Vertical Individualism and Collectivism: A Meta-Analysis. Verfügbar unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s12646-022-00638-x