Introversion in einer extrovertierten Welt

„Warum bist du so still?“ — „Warum bist du nicht etwas offener?“ — „Sei doch mal etwas kontaktfreudiger.“ Die Welt ist auf Extrovertierte ausgerichtet. Allen, die nicht darunterfallen, wird gesagt, sie „könnten ruhig mal etwas aus sich herauskommen“. Doch was heißt das genau und wie grenzen sich Introversion und Extraversion überhaupt voneinander ab? 

Introversion und Extraversion

Es gibt verschiedene Varianten, um Introversion und Extraversion zu definieren. Introvertierte sowie extrovertierte Personen bekommen in jenen Definitionen oftmals verschiedene Eigenschaften zugesprochen, die aber nicht unbedingt auf jedes Individuum zutreffen.

Die einfachste Art Introversion und Extraversion zu unterschieden und zu beschreiben, ist mithilfe der sozialen Batterie.

Demnach hat jeder Mensch sozusagen eine Batterie, die das Level ihrer mentalen Energie darstellt. Befindet man sich nun in einer sozialen Situation, sagen wir man ist auf der Arbeit, in der Schule oder in einer Vorlesung, dann verändert sich die Menge der Energie. 

Für introvertierte Personen bedeutet das, dass ihre Energie kontinuierlich weniger wird. Sie werden durch die Interaktion mit Menschen förmlich ausgelaugt und müssen sich an einen Ort zurückziehen, wo sie allein sein können. Denn nur so können sie ihre soziale Batterie wieder auffüllen.    

Bei extrovertierten Personen verhält es sich umgekehrt. Sie brauchen Menschen um sich herum, um ihre Batterien auffüllen zu können. 

Die goldene Mitte

Neben den beiden Extremen von Introversion und Extraversion existiert in der Mitte noch die Ambiversion. Sie liegt, wie das Wort „Mitte“ schon beschreibt, direkt zwischen introvertiert und extrovertiert und umfasst all jene, die sich weder der Introversion noch der Extraversion zugehörig fühlen. Ambivertierte zeigen Eigenschaften beider Seiten auf und ihre Reaktionen sind meist situationsabhängig. Das heißt bestimmte soziale Interaktionen können sie ermüden, während sie andere wiederum als energiegeladen betrachten würden.

Introversion ist nicht gleich Schüchternheit

Obwohl Introversion und Schüchternheit nicht das gleiche sind, werden Introvertierte oftmals sofort als schüchtern abgestempelt, wenn sie nicht redefreudig sind. Dabei hat Schüchternheit ganz andere Ursachen als Introversion. 

Personen, die wirklich schüchtern sind, haben eine gewisse Angst davor, mit anderen Menschen zu reden. 

Beide Parteien sind in sozialen Settings zwar still, jedoch sind Introvertierte gewiss nicht ängstlich. Sie haben nur nicht das Bedürfnis, zu reden. Schüchterne, auf der anderen Seite, wollen teilweise sogar an der Konversation teilhaben, trauen sich aber nicht, etwas zu sagen.

Nur weil man introvertiert ist, heißt das also nicht gleich, dass man schüchtern ist. Man kann auch extravertiert und schüchtern sei. Diese zwei Eigenschaften sind in keiner Weise verbunden, wie fälschlicherweise immer angenommen wird.

Ist die Welt wirklich auf Extrovertierte ausgelegt?

Bedenkt man, dass Introvertierte in sozialen Situationen stetig Energie verlieren, dann lautet die Antwort: ja. Dieser Effekt löst sich nämlich nicht ausschließlich durch aktive Beteiligung an Konversationen aus. Es reicht schon, wenn man nur die öffentlichen Verkehrsmittel wie den Bus benutzt, ohne dabei direkt mit jemandem zu interagieren, um das Energielevel zu senken. 

Wenn man ruhiger ist, dann wird man entweder gefragt, warum man so still ist oder man wird gleich aufgefordert, mal etwas aus sich herauszukommen. Die Situation ist dabei völlig egal. Man hört es von Verwandten, Bekannten und Freund:innen, selbst auf der Arbeit oder beim Bewerbungsgespräch. „Ist kontaktfreudig und lernt gerne neue Menschen kennen“ ist mittlerweile bei jeder Stellenausschreibung die Devise, unabhängig davon, ob man überhaupt mit anderen Menschen, ausgenommen der Kolleg:innen, in Kontakt kommt.  Für eine introvertierte Person sind solche Annahmen auf täglicher Basis anstrengend. 

Auch in der Schule werden introvertierte Schüler:innen für etwas bestraft, auf das sie keinen Einfluss haben. Die Rede ist hierbei von mündlichen Mitarbeitsnoten. Mal davon abgesehen, dass man die Antwort wissen muss, um sich zu melden und dem Unterricht etwas beizutragen, spielt auch die Quantität eine Rolle. Wer also wenig im Unterricht redet und sich wenig meldet, um Antworten zu geben, wird demnach mit einer schlechteren Note bewertet. 

Fügen wir die Puzzleteile von dem, was wir über Introversion wissen, nun zusammen, dann ergibt sich folgendes Bild: Introvertierte Schüler:innen verbringen meist bis zu acht Stunden mit etwa 25 anderen Schüler:innen in einem Klassenraum und damit in einem sozialen Umlauf. Sie haben keine Zeit für sich allein und ihre soziale Batterie leert sich dementsprechend. Gleichzeitig bekommen sie eine schlechte Mitarbeitsnote dafür, dass sie nicht aktiv am Unterricht teilgenommen haben, weil sie allein durch das soziale Umfeld schon erschöpft sind. 

Hier – sowie in allen anderen Situationen – das Argument anzubringen, dass sie damit klarkommen müssen, weil die Dinge nun mal so sind, ist absolut haltlos, denn genauso gut könnte man den Spieß umdrehen. Man könnte genauso gut fragen: „Warum bist du immer so laut?“ oder sagen: „Sei doch mal etwas leiser.“ 

Aber damit wäre es auch nicht getan. Einfach zu akzeptieren, dass nicht alle Menschen soziale Interaktionen gleich wahrnehmen und verschiedene Reaktionen zeigen, ist alles, was man machen muss.

Introversion (wie auch Extraversion) ist nichts, was man versuchen sollte, sich abzutrainieren. Es ist auch nichts, was man versuchen müsste, zu ändern – geschweige denn versuchen sollte, zu ändern. Es ist nur eine kleine Facette der Persönlichkeit, die perfekt ist, so wie sie ist. 

Autorin: Julia Rodner
Bild: macrovector auf freepik

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