„Kennzeichen L. Eine Stadt stellt sich aus“ – Rezension & Interview zur Ausstellung

Kennzeichen L. Eine Stadt stellt sich aus“ – Über diesen Ausstellungstitel des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig stolpert man vielleicht zunächst einmal. Auf den zweiten Blick ergibt er durchaus Sinn. Zum einen steht der Buchstabe L auf deutschen Autokennzeichen für die Stadt Leipzig, zum anderen beschäftigt sich die Ausstellung damit, was Leipzig kennzeichnet.

Seit dem 16. Juni kann man sich im Haus Böttchergässchen mit dem historisch gewachsenen Lebensgefühl Leipzigs auseinandersetzen. Was macht die Stadt und ihre Bewohner*innen aus und wodurch wurden und werden sie geprägt? Was beschäftigt die Stadtgesellschaft heute und morgen?

Wir haben uns schon in der kurzweiligen Ausstellung umgeschaut und ein paar spannende Dinge über unser Zuhause erfahren. Als „Neuleipzigerinnen“ sind wir mit der Geschichte Leipzigs nicht so stark vertraut und konnten viel lernen, aber auch für Alteingesessene gibt es viel zu entdecken. Ein Kernpunkt des Leipziger Lebensgefühls ist die Weltoffenheit. Wie sollte es auch anders sein, bei einer Stadt, die sich als Messe-, Handels-, Industrie-, Kultur-, Musik- und Universitätsstadt versteht? Diesem Punkt wird in der Ausstellung viel Platz gewidmet. Auf einer der Museumstafeln wird Leipzig als „Tummelplatz der Köpfe, Ressourcen und Institutionen“ beschrieben. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Leipzig auch als von den Bürger*innen und deren Vereinen getragene Stadt gezeigt wird. Ein gutes Beispiel für den Einfluss der Leipziger*innen sind bis heute das Gewandhaus und sein Orchester.

Die Ausstellung nimmt mit Wahlplakaten der letzten Oberbürgermeisterwahl und Fotos von Demonstrationen aus den letzten Jahren auch ganz aktuelle Themen und Konfliktfelder der Stadtgesellschaft in den Blick. Hier darf man sich als Besucher*in auch beteiligen und eigene Bewertungen der Lage und Vorschläge anbringen.

Blick in die Ausstellung

Wir konnten auch dem Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums ein paar Fragen zu der Ausstellung stellen:

Im April 2019 trat Dr. Anselm Hartinger seinen Dienst als neuer Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig an. Er ist gebürtiger Leipziger, verbrachte seine Kindheit in Leipzig und studierte Mittlere und Neuere Geschichte sowie Historische Musikwissenschaft an der Universität Leipzig. Nach seiner Promotion an der Philipps-Universität in Marburg sowie seiner Tätigkeit als Kurator am Landesmuseum Württemberg leitete er die Erfurter Geschichtsmuseen. Vor ungefähr zwei Jahren kehrte er nach Leipzig zurück und macht nun eine Ausstellung über seine Heimatstadt. Nachdem Herr Dr. Hartinger bereits als Leipziger Stimme in unserer 54. Ausgabe auftrat, freuen wir uns sehr, ihn noch einmal zu einem kleinen Interview auf unserem Blog begrüßen zu dürfen.

Wenn Sie den Begriff Heimat hören, welche Bilder kommen Ihnen dann spontan in den Sinn?

Heimat ist ein bisschen ein belasteter Begriff, der auch viel an kollektiver Indienstnahme und Identitätskonstruktion in sich trägt. Ich würde lieber von Herkunft sprechen – da ist das Rosental mit seiner Wiese und dem Fußballspielen zwischen den Maulwurfshügeln. Da ist das weihnachtliche Kurrendesingen vor der Bescherung mit meinen Eltern irgendwo rund um die Humboldstraße, meine erste Studentenbude in Stötteritz mit der um die Ecke scheppernden Straßenbahn. Die Thomaskirche mit Bach, die Gartenkneipe Waldluft in Leutzsch mit den bunten Fensterläden.

Was hat Sie zu der Ausstellung „Kennzeichen L. Eine Stadt stellt sich aus“ veranlasst?

Da ist einiges zusammengekommen. Das Gefühl, dass Leipzig nach einem tiefen Einbruch in den 1990ern sowie 15 Jahren neuerlichen Wachstums jetzt an einem Punkt seiner Entwicklung angekommen ist, wo die Stadtgesellschaft diskutiert, wie es weitergehen soll: Hippe Kreativstadt oder entspanntes Familienleben, trendige Kultur für wenige oder bezahlbares Wohnen für alle, Parkplätze versus Parks oder auch gemeinsame Werte für alle oder Rückzug in den eigenen Kiez am Stadtrand? Da fanden wir es Zeit, mal den Puls der Stadt zu messen … Zudem bin ich selbst 2019 nach einem guten Jahrzehnt zurückgekommen und war echt neugierig, wie es „meiner Stadt“ so geht und was sie umtreibt. Und dann die aktuelle Krise – natürlich fragen wir, worauf sich Leipzig in einer solchen Herausforderung stützen kann und wie wir aus früheren Pandemien, Krisen und Umbrüchen gestärkt hervorgegangen sind.

Worauf können sich die Besucher*innen der Ausstellung besonders freuen? Gibt es ein Ausstellungstück, dass Ihnen besonders gut gefällt oder am Herzen liegt?

Es sind so viele, und schon die Vorauswahl aus unserem Fundus fiel schwer … Wenn ich wählen muss, dann drei: Die originale Losbude der Zoolotterie erinnert mich an meine Kindheit und lässt mich spontan nach einem Fünfzig-Pfennig-Stück in der Hosentasche kramen. Dann – ich mache mir sonst nichts aus Autos, aber das schnittige Piccolo Trumpf der Firma Louis Krause aus Gohlis, ein Versehrtenfahrzeug und Vorgänger des legendären Krause-Duo, bringt meine Augen doch zum Leuchten. Selten war Inklusion so elegant wie hier … Und dann die zerzauste Jacke meiner verstorbenen Mutter Christel Hartinger, die sie auf Ostermärschen und Friedensmahnwachen trug. Sie steht für die engagierte Zivilgesellschaft dieser Stadt.

Versehrtenfahrzeug
Leipzig ist keine Stadt wie jede andere. Was macht die Stadt Leipzig und ihre Bewohner*innen Ihrer Meinung nach aus?

Sie sind überwiegend liberal und weltoffen – zumindest im Vergleich mit dem regionalen Umfeld. Sie lassen sich nicht unterkriegen und streiten engagiert und manchmal sogar parteiübergreifend für eine hoffentlich weiterhin gewaltfreie Veränderung vor Ort. Sie setzen sich hohe Ziele, die manchmal einen Hauch von Größenwahn streifen. Und sie verstehen Lokalstolz als Antrieb, die Stadt besser und lebenswerter zu machen.

Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an die Stadt Leipzig denken?

Das Tempo der Bewegung – in den Beinen und im Kopf. Der Hauptbahnhof – diese Kathedrale der Mobilität. Der bestürzende Verfall vor `89, und was wir wieder daraus gemacht haben. Bachs Kantaten und Mendelssohns Lobgesang – Kunst, die aus der Tradition lebt und daraus etwas völlig Neues macht.

Haben Sie einen Lieblingsplatz in Leipzig?

Ach, das sind viele. Die ConnStanze im Werk II, die auf liebevoll angerichteten Tellern die Konversion von Industrie in Lebensart zelebriert. Das Völkerschlachtdenkmal, das mit der Stadt gealtert ist und sich wieder verjüngt hat. Neuerdings die Karl-Heine-Straße, wo man die besten Piadine nördlich der Alpen bekommt. Die Postkartenständer vor der Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Der Schloßpark in Lützschena, wo morbide Gräber auf junges Grün treffen. Alle verrate ich sowieso nicht (lacht) …

Sie haben auch an vielen anderen Orten gelebt. Würden Sie Leipzig trotz Ihrer längeren Abwesenheit noch als Ihre Heimatstadt bezeichnen oder haben Sie möglicherweise auch noch zu anderen Orten eine heimatliche Verbindung aufgebaut?

Leipzig war immer meine Heimatstadt, und ich hatte stets noch einen Koffer und ein Stück Stuckdecke hier. Ich denke gern an meine Zeit in Basel und der Schweiz zurück, liebe noch immer das mittelalterliche Erfurt mit seinem Domberg im Schnee und habe auch das sehr kulturaffine Stuttgart geknackt – aber Leipzig und seine besondere Atmosphäre sind einfach unersetzlich.

Ein Sprichwort lautet: „Heimat ist, wo du wegwillst, wenn du älter wirst, und zurückwillst, wenn du alt bist“. Stimmen Sie dem zu?

Ich wollte nie weg, bin aber doch fortgegangen, und das war sehr gut so. Wie soll man das Eigene wirklich schätzen, wenn man nie etwas Anderes kennengelernt hat? Jetzt bin ich zurück und werfe alles rein, um unser Museum und unsere Stadt mit Kompetenz und Leidenschaft weiterzubringen. Und dann hoffe ich natürlich, dass Leipzig mich noch lange jung erhält …

Wer jetzt neugierig geworden ist kann bis zum 26. September 2021 die Ausstellung „Kennzeichen L. Eine Stadt stellt sich aus“ besuchen und an einer Vielzahl dazugehöriger Veranstaltungen wie Führungen, Radtouren und Workshops teilnehmen. Mehr Informationen dazu findet ihr auf der Webseite des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig und mit etwas Glück könnt ihr über unseren Instagram-Kanal Eintrittskarten gewinnen.

Autorinnen: Lisa Hauschild & Hedwig Walter – Das Interview führte Lisa Hauschild.
Bildquelle: Hedwig Walter

Beitrag erstellt 173

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Verwandte Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben