Am Samstag, den 17. Januar 2015, kam Chanel Millers Schwester zu Besuch nach Palo Alto und sie beschlossen gemeinsam mit einer Freundin abends auf eine Party an der US-Universität Stanford zu gehen. Sie alberten herum, tranken und lachten. Und dann hören Chanel’s Erinnerungen urplötzlich auf. In ihrem Memoir „Ich habe einen Namen“ erzählt sie von dem davor und dem, was danach kam, nachdem Brock Turner sie vergewaltigt hat und ein zermürbender Gerichtsprozess begann.
Chanel’s Geschichte
[TW: Sexualisierte Gewalt, Alkohol und Drogen, Tod]
Nach einer Party am Stanford-Campus wird Chanel Miller, lange Zeit bekannt unter dem Pseudonym Emily Doe, zerkratzt, bewusstlos und blutend auf dem Boden hinter einer Mülltonne aufgefunden und ihr Täter zu nur sechs Monaten Haft verurteilt. In ihrem Memoir nimmt Chanel uns mutig an die Hand und zeigt uns all das, was sie erlebt hat und durchstehen musste. Wie es sich anfühlt, ohne Erinnerungen aufzuwachen und den eigenen Körper verlassen zu wollen. In einem monatelangen Prozess immer wieder das eigene Trauma durchleben zu müssen und das Gefühl zu bekommen, die Schuld liege bei einem selbst. Wir sehen erneut, wie die Gesellschaft über Frauen urteilt und Männer in Schutz nimmt und ihre Handlungen entschuldigt. Doch sie zeigt uns auch, wie stark wir gemeinsam sein können und wie sich Menschen gegenseitig helfen können zu heilen.
Raus aus der Komfortzone
Ich habe Chanel’s Geschichte innerhalb eines Buchclubs mit drei Freundinnen gelesen und sie erinnerte mich direkt an die #MeToo Bewegung, die, nachdem Hollywood-Produzent Harvey Weinstein sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde, Frauen in den sozialen Medien dazu aufrief, ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt zu teilen. Oft musste ich beim Lesen innehalten, um mir die Tränen von den Wangen zu wischen oder mich davon abzuhalten laut loszuschreien, aus Angst, ich könnte womöglich nicht wieder aufhören. Der Schock und der Sturm an Emotionen, den Chanel jede Sekunde verspürte, drang mir tief unter die Haut und schnürte mir die Brust ab. Dabei musste ich immer wieder daran denken, dass ich ihre Schritte nachging, mit ihr litt und mit ihr kämpfte, jedoch anders als sie die Möglichkeit hatte, jederzeit das Buch zur Seite zu legen.
Chanel Millers kraftvolle Stimme
Man merkt, dass Chanel Millers Mutter ebenfalls Autorin ist und sie die Liebe für Worte mit ihr teilt. Ihre Verwirrung, als sie im Krankenhaus aufwacht und die schmerzliche Realisierung bluten durch die Seiten, sodass man nicht nur das Gefühl hat, dass man mit ihr dort ist – man ist in diesen Momenten Chanel. Gleichzeitig besitzt sie die Gabe einen in Kindheitserinnerungen mitzunehmen und zum Lächeln zu bringen, wo man doch gerade eben noch im Gericht saß und anschuldigende Fragen beantworten musste, während man innerlich immer kleiner wurde. Neben den schlaflosen Nächten, der Angst und der Ungerechtigkeit des Ganzen, schaffte sie es trotz dessen Hoffnung zu wecken und die Wärme und Kraft den geliebten Menschen um sich herum zu zeigen, die in ihr steckt.
„Ich habe einen Namen“ ist eine unglaublich kraftvolle, erschütternde und bewegende Geschichte, über die man sprechen und die besonders jungen Männern ans Herz gelegt werden sollte.
„Du hast mir meinen Wert genommen, meine Privatsphäre, meine Energie, meine Zeit, meine Sicherheit, meine Intimität, mein Selbstbewusstsein, meine eigene Stimme, bis heute.“
Autorin: Jolyn Stenschke
Bild: Mihai Surdu auf Pixabay